
"SEHSTÜCK", Installationsansicht im BEISTE Kunstraum/BEISTE_Satellite auf dem Photoszene-Festival Köln, 2023
SEHSTÜCK
Die Wellen sind rot. Ein Ozean aus Blut. Es schäumt, als würde sich aus weiß bekröntem Wellensaum etwas gebären. Bilder werden angespült. Ausschnitte von Videos, die Szenen der Gewalt zeigen. Glänzende Messer, leblose Körper, abgeschnittene Köpfe, die am Boden liegen. Was schwer erträglich ist, wird von Emojis zensiert. Lustige, unverfängliche Bildchen rastern die Videoausschnitte, teilen sie ein in quadratische Kacheln. Sie laufen auf und nieder, lassen die Bildoberfläche vor dem Auge vibrieren. Ein schnell wechselndes Gewirr aus Stellvertretern von Emotionen, aus Lachen, Weinen, Herzchenaugen. Spiegeln sie die digitalen Reaktionen auf Gewaltvideos, die laufend im Netz verbreitet werden? Ein nie enden wollender Strom der Gefühle, die selten mehr als oberflächlich stattfinden, eine kurze Reaktion aus der Ferne und dann weiter zum nächsten Video.
Die Videoausschnitte zeigen Hinrichtungen, erinnern an bekannte Veröffentlichungen vom IS mit wie Trophäen präsentierten Köpfen, entstammen aber in Wahrheit den Favelas in Südamerika. Immer wieder wird das „Sehstück“, so der Titel der Arbeit, von gefärbten Wellen eines dunkel schäumenden Ozeans unterbrochen, bis sich eine neue Welle der Gewalt an den Augen der Betrachtenden bricht. Stimmen werden lauter, dann leiser, schwellen an und wieder ab wie das Wellenrauschen. Dann ist der Bildschirm schwarz, für ein Augenblinzeln – und länger, zögerlich, als würde man die Augen verschließen und nicht mehr öffnen wollen. Es sind Videos, die unvermittelt aus den Tiefen der Gewässer an die Oberfläche treten, sich am Ufer ablagern und dann wie Fundstücke am Strand liegen bleiben, sich kontextlos von allen Seiten betrachten lassen. Verortet an der Demarkationslinie zwischen Wasser und Land, Leben und Tod. Wie damit umgehen? Zurück in die Fluten werfen oder speichern, teilen, melden? Eine seltsame Faszination, die scheidende Meerestiere am Strand liegend ausüben.
Nur ein Buchstabe trennt den Titel der Arbeit vom Sujet des sogenannten Seestücks, welches die malerische Darstellung des Meeres, der Küste oder einer Seeschlacht beschreibt. Auch hier ist es das Video einer Schlacht, das auf offenem Gewässer umhertreibt. Gedanken an Mitarbeiter*innen von großen Social-Media-Plattformen kommen in den Sinn, deren Job es ist, gewalttätige und pornografische Inhalte zu sichten und bei Richtlinienverstoß zu entfernen. Die Dokumentation „The Cleaners“ rückte sie aus dem Schatten ins Licht. Auf den Philippinen ansässige sogenannte Content-Moderator*innen, die jeden Tag mit Folter und Gewalt konfrontiert werden, selbst seelischen Schaden durch ihre Arbeit erleiden. Gewaltvideos sind Machtdemonstrationen, legen Zeugnis ab. Sie untermauern die Schreckensherrschaft von Gangs, von Terroristen, verbreiten ein Klima der Angst. Zugleich dienen Gewaltvideos bei der Aufklärung von Verbrechen, werden von NGOs und Staatsgewalt genutzt, um Kriegsverbrechen festzustellen.
Mio Zajacs „Sehstück“ hinterfragt unsere Sehgewohnheiten, unseren Umgang mit Gewaltvideos im Internet. Gefühle schwappen über, Konflikte eskalieren, Köpfe werden der Kamera präsentiert. Die Empörung ist zunächst groß, wenn virulente Bilder geteilt werden, durch alle einschlägigen Medien rattern. Die Welle der Empörung aber verebbt, sobald die Brandung nachlässt. Der Ozean zieht das Fundstück in die Wellen zurück, das Wasser färbt sich blau, bis das nächste Video in die Timeline gespült wird. Was, wenn die Flut eines Tages über uns zusammenbricht?
Julia Stellmann

"SEHSTÜCK", Installationsansicht im BEISTE Kunstraum/BEISTE_Satellite auf dem Photoszene-Festival Köln, 2023

"SEHSTÜCK", Filmplakat, 2023